Gestern waren wir dort, wo es geschah. Gut 10 Jahre ist es her, da kam mein Studienfreund Onur bei Glonn in einer S-Kurve auf regennasser Straße mit seinem Kleinwagen auf die Gegenfahrbahn, striff ein entgegenkommendes Auto und fand sein tragisches Ende an einem Baum. Heute steht dort ein Marterl, ein Wegkreuz, obwohl Onur Moslem war. Davon abgesehen, dass ein Weg-Halbmond wohl komisch aussähe, gibt es dafür noch einen guten Grund: Onur war im besten Sinne in Deutschland angekommen, hatte einen bunten Freundeskreis, eine deutsche Freundin und als Mathematiker im Hauptstudium die besten beruflichen Perspektiven. Der Unfall geschah auf dem Rückweg von einem katholischen Jugendlager, an dem er als Betreuer teilgenommen hatte. Und keiner hatte da Angst vor dem bärtigen Moslem.
Der bärtige Moslem (vermutlich war es eher ein Mode-Bart) liegt jetzt in Izmir begraben, schon am Tag nach dem Unglück wurde der Leichnam in die Türkei geflogen. Seine Freundin kam damals direkt mit der Familie zur Beerdigung. Wir anderen hatten nur die Möglichkeit, uns mit einem christlichen Gottesdienst in München rituell von ihm zu verabschieden, rührend genug.
Aber weil das alles so schnell ging, weil man es gewohnt ist, sich am Grab zu verabschieden und weil diese öffentliche Geste der Reise ans Grab das Leben, das Wesen und die Verdienste des Toten ehrt, deswegen hatte ich immer wieder den Gedanken, an Onurs Grab zu reisen.
Und zwar mit dem Fahrrad. Mit dem Fahrrad kommt man in einem längeren Urlaub überall hin. Die Landschaft ändert sich schnell genug, dass es nicht langweilig wird und die Menschen ändern sich langsam genug, dass man diesen sanften Wandel versteht. Meinen beruflichen ökologischen Fußabdruck kann ich mit der Radlerei wohl nicht mehr ausgleichen, wohl aber die gesundheitliche Belastung durch die Büroarbeit und die wenige Zeit zur Bewegung.
So bin ich 2012 auch los, als es endlich mal beruflich passte und mit Stefan ein anderer vermeintlich Verrückter ein paar Tage Zeit hatte. 1400 km von München nach Vrsac in Serbien, es bleiben für dieses Jahr noch 1500 km bis nach Izmir.
Wer jetzt sagt, Fahrradfahren tut auf Dauer weh, der bekommt ein paar Begriffe als Hausaufgaben zum Recherchieren: Rahmengeometrie, Fahrhaltung, Federung, individuelle Sattelbreite, Sitzpolster, mehrere Griffpositionen, Trittfrequenz.
Mehrere Hunderttausend Tritte werden es am Ende wohl sein, von München bis nach Izmir. Zehntausende Höhenmeter und gefühlte tausend Flüche, wenn man die über hundert Kilo an Gesamtgewicht über die Gebirge von zehn Ländern kurbelt mit einem Ziel: Aus eigener Kraft in der Türkei ankommen!
Darauf haben Pauli und ich uns eingestimmt am Sonntag. Insgesamt 80 km sind wir gefahren, durch die nicht mehr ganz so sanften Hügel bei Glonn, mit einer Einkehr am Steinsee, über ein paar Schotterpisten und nicht zuletzt zu dem magischen Licht, das uns an Onurs Wegkreuz gegrüßt hat.
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